Inhalt anspringen

Grundbildung

"Ohne Scheuklappen denken" - Kooperation der vhs Kreis Offenbach mit dem Jobcenter Pro Arbeit

Im Landkreis Offenbach kooperieren die vhs Kreis Offenbach und das Kommunale Jobcenter Pro Arbeit seit 2015 sehr erfolgreich miteinander im Bereich Grundbildung.

Katharina Reinhold, veröffentlicht am 20.09.2018

Im Jobcenter gibt es ein Kompetenzteam Grundbildung, das Mitarbeiter*innen sensibilisiert und das Thema in und außerhalb der Einrichtung voranbringt. Bei Anzeichen von Grundbildungsbedarf werden Kund*innen zu Beratungsgesprächen an die vhs vermittelt und eine intensive Rückkopplung mit dem Jobcenter findet statt.

Ein Gespräch mit Brigitte Klötzing, Mitarbeiterin der vhs Kreis Offenbach (Öffnet in einem neuen Tab) und Jens Lee, Pro Arbeit – Jobcenter des Kreises Offenbach (Öffnet in einem neuen Tab), Abteilung Arbeitsmarktpolitische Instrumente.

Welche Aktivitäten gibt es im Kreis Offenbach zum Thema Grundbildung?

Klötzing: An der vhs bieten wir seit über 30 Jahren Grundbildungskurse an, meist geht es um Lesen und Schreiben, auf unterschiedlichen Niveaus. Ab und zu gab es Aktionen wie das ALFA- Mobil (Öffnet in einem neuen Tab) oder eine Ausstellung zum Thema funktionaler Analphabetismus. Und dann gibt es die Aktivitäten des Kompetenzteams bei Pro Arbeit und unsere Kooperation.

Was sind die Aufgaben des Kompetenzteams Grundbildung bei Pro Arbeit?

Lee: Dem Kompetenzteam Grundbildung gehören Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus verschiedenen Bereichen des Hauses an. Wir informieren uns über Angebote im Bereich Grundbildung, bilden uns fort und sensibilisieren unsere Kolleginnen und Kollegen für das Thema. Man könnte sagen, dass wir den Blick weiten und üben, mal ohne Scheuklappen zu denken. Wir tragen das Thema in unser Haus, und wir vernetzen uns regional und überregional mit anderen Akteurinnen und Akteuren in dem Feld.

Wie sensibilisieren Sie Ihre Mitarbeiter*innen bei Pro Arbeit?

Lee: Wir haben u. a. auf Basis der Materialien des DVV-Projekts AlphaKommunal Sensibilisierungsangebote entwickelt. Es sind eher kürzere Impulse und Gespräche, in denen wir den Kolleginnen und Kollegen – meist Jobcoaches, also die Berater, die im Kontakt mit unseren Kundinnen und Kunden sind – zeigen, wie sie erkennen können, ob jemand Probleme beim Lesen und Schreiben hat, ganz nebenbei und unauffällig. Wir sprechen darüber, wie sich funktionaler Analphabetismus auf das Leben und die Arbeit der Menschen auswirken kann – auch auf die Kommunikation und Zusammenarbeit mit dem Jobcenter. 

Wie genau sieht die Zusammenarbeit von Pro Arbeit und der vhs im Bereich Grundbildung aus?

Lee: Wir tauschen uns über das Thema Grundbildung aus und erhalten viele praktische Tipps von den Fachleuten aus der vhs. Für viele unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist das Thema noch neu, es ist sehr hilfreich, praxisorientierte Unterstützung zu bekommen, z. B.  in Form von Handreichungen. Wenn unsere Jobcoaches bei einer Kundin oder einem Kunden den Eindruck haben, er oder sie könne Probleme mit dem Lesen oder Schreiben haben, können sie der Person ein Beratungsgespräch mit Frau Klötzing in der vhs vermitteln. Dies ist kein Pflichttermin, sondern ein Angebot. Frau Klötzing führt dann eine ausführliche Diagnostik durch, gibt den Kunden direkt eine Rückmeldung und bietet ihnen gegebenenfalls an, an einem Grundbildungskurs in der vhs teilzunehmen. Die Ergebnisse der durchgeführten Diagnostik gehen an die Jobcoaches bei Pro Arbeit, und es findet noch ein Gespräch statt, in dem Frau Klötzing die Fähigkeiten und die Schwierigkeiten der Kunden erläutert, damit gemeinsam ein passgenaues Angebot erfolgen kann.

Wie sieht eine Diagnostik bei Ihnen aus?

Klötzing: Ich habe eine Mischform aus der klassischen lea.- und Kurzdiagnostik entwickelt. Wir steigen meist mit einem Gespräch ein, bei dem ich Fragen über die Bildungs- und Arbeitsbiografie der Teilnehmer*innen stelle. Sie sollen erkennen, dass ich mich für sie interessiere und dass es nicht darum geht, ihre Defizite herauszustellen. Es folgt dann eine Leseübung, in die Texte aus dem beruflichen Kontext eingeflochten sind, sowie Schreib- und Rechenaufgaben. Mir ist es wichtig, einen Schwerpunkt darauf zu legen, was die Teilnehmerinnen und Teilnehmer können, also auf ihren Fähigkeiten aufzubauen. Ich gebe ihnen dann auch ein entsprechendes erstes Feedback und informiere sie über Angebote, die die vhs vorhält, um Fähigkeiten verbessern zu können.

Welche Art von Praxistipps sind für die Jobcoaches besonders hilfreich?

Lee: Die Aufgabe eines Jobcenters ist es letztlich ja, Menschen in Arbeit zu bringen. Für uns sind daher besonders die Bereiche interessant, die die beruflich relevanten Fähigkeiten betreffen. Außerdem geht es uns darum, unsere Zusammenarbeit mit den Kunden zu verbessern. Grundbildung ist für beide Bereiche ein wichtiger Faktor. Die vhs unterstützt uns dabei, Bedarfe zu erkennen, uns besser auf die Kunden einstellen zu können und ihnen gegebenenfalls Angebote oder Maßnahmen zu empfehlen.

Klötzing: Die vhs hat z.B. eine Übersicht zusammengestellt, die über die verschiedenen Förderbedarfe im Bereich Sprache und Alphabetisierung und die entsprechenden Kursangebote informiert: Funktionale Analphabet*innen, Fremdsprachenlerner*innen und Fremdsprachenlerner*innen mit Alphabetisierungsbedarf. Diese „Typen“ werden anhand von Beispielen erklärt. So kann es z.B. hochqualifizierte Kunden geben, die jedoch zu den Zweitschriftlernern zählen, wie etwa ein Bauingenieur aus Syrien, der während seiner Schulausbildung und seines Studiums keine Sprache mit lateinischer Schrift lernen musste. Er benötigt einen Kurs, der Alphabetisierung und Deutsch als Fremdsprache verknüpft. Die Jobcoaches müssen nicht alle Feinheiten erkennen, aber eine gewisse Sensibilität für das Thema, die Unterscheidung der Bedarfe und Kurse ist schon wichtig. Das klappt inzwischen schon ziemlich gut.

Wie ist das Thema Grundbildung noch in der Arbeit des Jobcenters verankert?

Lee: Wir bemühen uns, das Thema Grundbildung, wo es möglich und sinnvoll ist, immer mit zu bedenken. So haben wir inzwischen den Faktor Grundbildung im Bereich „Lebenspraktische Kompetenzen“ in unser Profiling-Instrument im IT-System aufgenommen, mit dem die Jobcoaches standardmäßig arbeiten. Es ist nur ein Bereich von vielen, aber er wird so bei jedem neuen Antragsteller bzw. Kunden mit berücksichtigt.
Wir werden außerdem künftig die Alpha- Kurzdiagnostik des DVV im Bereich Grundbildung in unsere „Aktivierungswerkstatt“ für neue Antragsteller aufnehmen. Diese werden durch geschulte Mitarbeiterinnen des Jobcenters in einem offenen Angebot durchgeführt.

Inwiefern profitiert die Volkshochschule von der Zusammenarbeit mit Pro Arbeit?

Klötzing: Die Diagnostikgespräche führen wir als Dienstleistung für Pro Arbeit durch und stellen sie in Rechnung. Durch die Kooperation kommen wir in Kontakt mit Menschen, die wir sonst eher nicht erreichen würden. Wir bekommen so regelmäßig Teilnehmende der Alpha-Level 1 und 2 für unsere Kurse. Wir können sehr flexibel auf Bedarfe reagieren. Interessierte können auch während des laufenden Semesters noch in Kurse einsteigen, und wir reagieren jedes Semester auf die Bedürfnisse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Es ist uns wichtig, dass die Gruppen vom Lernstand sehr homogen sind, damit sich niemand abgehängt fühlt.

Welche Faktoren tragen zum guten Erfolg Ihrer Zusammenarbeit bei?

Lee: Wir befinden uns in der glücklichen Lage, dass wir sowohl von der kommunalen Spitze, also dem Landrat, als auch von unseren Hausleitungen jeweils sehr unterstützt werden. Das Thema Grundbildung ist ihnen wichtig, und sie geben uns die nötigen Freiräume und die finanzielle Unterstützung, um Angebote und Aktivitäten zu entwickeln. Im Bereich Grundbildung zu arbeiten bedeutet, dass man Geduld haben muss. Es ist ein Marathon, kein Sprint, darüber muss man sich klar sein. Darin sehe ich gleichzeitig eine der großen Herausforderungen – immer am Ball zu bleiben und sich an kleinen Erfolgen zu freuen. Unsere Zusammenarbeit mit der vhs wird von den Jobcoaches sehr positiv aufgenommen. Das liegt sicher auch am hohen Engagement der Mitarbeiterinnen der vhs wie Frau Klötzing.

Klötzing: Wir sind regelmäßig im Austausch und passen unsere Instrumente an. Manchmal muss man einfach etwas ausprobieren und dann gegebenenfalls nachjustieren. Man sollte nicht einmal etwas entwickeln und dann stur dabei bleiben, sondern immer wieder überprüfen, ob es für alle Beteiligten passt. Mir ist es wichtig, dass wir fachbereichsübergreifend denken, über den Tellerrand schauen und die Personen im Blick behalten, um die es geht. Grundbildung ist ein Puzzleteil von etwas Großem. Was wir tun, ist meist nur der Anfang.

Kurzsteckbrief Landkreis Offenbach

Autorin

Katharina Reinhold ist freiberufliche Redakteurin und Lektorin für Publikationen im Print- und Online-Bereich. Seit 2000 ist sie als Trainerin und Vermittlerin tätig.

Erläuterungen und Hinweise

Bildnachweise

  • Katharina Reinhold
  • Katharina Reinhold
  • Katharina Reinhold